Echt sein ist unsere verletzliche Stärke - und sie verändert alles

Ich erinnere mich an einen Tag, der nach außen betrachtet perfekt war.
Sonnenschein, ein voller Kalender, strahlende Gesichter – alles lief wie geplant.
Und doch fühlte es sich leer an.
Wie eine glänzende Hülle ohne Inhalt.
Ein Moment, in dem ich mich selbst fragte:
Was nützt mir Perfektion, wenn ich mich dabei selbst verliere?


Der glatte Schein – und das Echo dahinter

Wir leben in einer Welt, die glänzt.
Hochglanzprofile, durchdachte Worte, kontrollierte Emotionen.
Es scheint, als sei für alles ein Filter verfügbar –
nur nicht für das, was uns im Innersten bewegt.

Perfektion ist messbar. Menschsein nicht.
Perfektion strebt nach Kontrolle.
Menschsein sehnt sich nach Verbindung.

Wir haben gelernt, wie man sich zeigt, wie man antwortet, wie man glänzt – doch kaum, wie man sich zeigt, wenn man nicht glänzt. Wenn man müde ist. Oder leer. Oder einfach nur echt.

In meinem Wirken mit Menschen sehe ich oft dieses stille Ringen:
Der Wunsch, gesehen zu werden – und zugleich die Angst, im Unvollkommenen entlarvt zu werden.
Als wäre unsere Verletzlichkeit ein Makel, dabei ist sie unser größtes Geschenk.
Sie macht uns nahbar. Spürbar. Menschlich.


Ich erinnere mich …

Damals war ich Brand Managerin in der Spirituosenbranche.
Eine Frau, die ihren Weg machte, die glaubte zu wissen, wie man sich zeigt, wie man präsentiert, wie man glänzt.

An einem Abend war ich Gastgeberin für eine internationale Geschäftspartnerin.
Wir saßen in einem charmanten österreichischen Lokal.
Gedimmtes Licht, edle Tischdecken, perfekt gestylte Kellner. Ein Glas Wein in der Hand, Konversation auf Englisch.

Alles war richtig. Alles war schön.
Aber in mir war es leer.

Ich sah ihr Gesicht, müde trotz Make-up.
Ich hörte meine Stimme, professionell und höflich.
Und ich fühlte – nichts.

Ein Gedanke hielt sich hartnäckig den ganzen Abend über in mir:
Was mache ich hier?

Es war, als würden wir alle eine Rolle spielen.
Sie. Ich. Die Kellner. Das Lokal.
Eine Inszenierung. Ein Schauspiel mit Hochglanzpolitur.

Vielleicht, denke ich heute, hätte ich echte Begegnung finden können.
Aber ich war so damit beschäftigt, perfekt zu sein, dass ich das Echte nicht mehr sehen konnte.
Nicht in mir. Nicht im Gegenüber. Nicht in diesem Abend.

Es war ein Schmerz, der keinen Namen hatte. Eine Stille in mir, die nicht gehört wurde. Und vielleicht genau deshalb so laut war.

Später, auf der Heimfahrt im Taxi, war es still.
Als ich ausstieg, war die Nacht bereits hereingebrochen.
Die ersten Schneeflocken des Jahres fielen sanft auf das still gewordene Wien.
Es war kühl. Schwarz. Leise. Und da war dieser eine Moment:

Ich bleibe stehen. Zwei Minuten lang.
Im Schein einer Laterne.
Ich atme tief ein – diese klare, kühle Winterluft.
Und zum ersten Mal an diesem Abend spürte ich mich wieder.

Kein Smalltalk, kein Lächeln, kein Licht, das glänzen wollte.
Nur ich, der Schnee, die Stille.

Das war das Echteste an diesem ganzen Abend.
Und ich wusste: Es muss sich etwas verändern.

Ich wusste nicht, wie oder wann. Aber ich wusste, dass mein innerer Kompass neu justiert werden wollte. Dass da mehr war als dieser schöne Rahmen. Dass da etwas in mir lebendig werden wollte, das keinen Raum fand in dieser perfekten Welt.


Tiefenpsychologisch betrachtet: Warum uns Perfektion erschöpft

Das Streben nach Perfektion ist ein Schutzmechanismus.
Oft wurzelt es in der frühen Erfahrung, dass Liebe an Bedingungen geknüpft war:
„Wenn du brav bist, wirst du geliebt.“
„Wenn du stark bist, bekommst du Anerkennung.“

Das innere Kind lernt schnell: Zeig dich nur, wenn du sicher bist, nicht zu stören. Zeig dich nur, wenn du glänzen kannst.

Lies dazu auch: So triffst du Wohlfühl-Entscheidungen trotz innerer Antreiber

Wir entwickeln eine innere Maske – fein geschliffen, gut trainiert.
Doch hinter dieser Maske bleiben unsere echten Bedürfnisse oft ungehört. Unser Wunsch nach Nähe, nach Verletzlichkeit, nach einer echten Berührung.

Doch je perfekter wir uns zeigen, desto größer wird oft die Leere.
Denn das wahre Bedürfnis – nämlich angenommen zu werden, so wie wir sind – bleibt unerfüllt.

Und irgendwann spüren wir: Es kostet zu viel. Die Rolle. Die Maske. Die Anpassung. Wir sehnen uns nach einem Raum, in dem wir einfach sein dürfen. Echt. Und frei.


Ich übe, echt zu sein

Heute ist vieles anders.
Aber eines ist geblieben: Es kostet Mut.

Ich übe, mich immer öfter echt zu zeigen.
Ich übe, aufzuhören zu performen, mein Wissen zu präsentieren oder meine Worte zu glätten, damit sie besser ankommen.

Und manchmal, wenn ich es wage, spüre ich ein inneres Zögern.
Ein Unbehagen.
Ein Teil von mir will sich zurückziehen, kontrollieren, beschwichtigen.
Ich beobachte das. Ich lasse es da sein.

Und ich merke: Je öfter ich es übe, desto vertrauter wird es mir.
Echtheit, wenn sie wahrhaftig ist – wenn sie von mir erzählt, nicht über andere urteilt – wird fast immer angenommen.

Ich erinnere mich an einen der ersten Momente, in denen ich mich so meinem Mann geöffnet habe.
Ich hatte Angst, dass er mich auslacht.
Dass er meine Worte nicht versteht.
Dass er meine Verletzlichkeit ablehnt.

Und dann war da plötzlich Stille.
Er hielt inne.
Er sah mich an.
Und ich spürte: Er konnte mich fühlen.

In diesem Moment entstand etwas Neues zwischen uns –
eine Verbindung, die nicht auf Worten beruhte, sondern auf Wahrhaftigkeit.

Diese Erfahrung wiederhole ich seither mit immer mehr Menschen.
Und oft – sehr oft – werde ich verstanden.
Fast immer werde ich akzeptiert.
Manchmal stoße ich auf Unverständnis.

Aber heute weiß ich:
Das liegt nicht an mir.
Echtheit und Perfektion prallen manchmal aufeinander.
Und das ist ungewohnt für jene, die noch den Schein aufrechterhalten wollen.

Aber ich bin nicht echt für andere.
Ich bin echt für mich.


Praktischer Impuls zur Selbstreflexion

Lass uns gemeinsam eine kleine Übung machen.
Nimm dir ein paar Minuten und frage dich:

  • In welchen Momenten zeigst du dich perfekt, obwohl du innerlich anders fühlst?
  • Was wäre, wenn du in genau diesen Momenten einen Hauch mehr Menschlichkeit wagst?
  • Welche Beziehung würde dadurch ehrlicher, tiefer, echter?
  • Gibt es einen Menschen, dem du heute eine echte Seite von dir zeigen möchtest?

Schreibe dir einen Satz auf, der dich daran erinnert:
„Ich bin nicht hier, um perfekt zu sein. Ich bin hier, um echt zu sein.“

Vielleicht schreibst du ihn dir mit der Hand auf ein Stück Papier.
Vielleicht sprichst du ihn laut aus.
Vielleicht liest du ihn dir selbst jeden Morgen vor.

Hänge ihn gut sichtbar auf. Und erinnere dich daran – immer wieder.
Nicht, um besser zu werden. Sondern, um dich selbst nicht zu verlieren.


Fazit: Der Mut, echt zu sein

Perfektion ist leicht zu lieben.
Doch es ist unsere Menschlichkeit, die wirklich berührt.
Die Risse in unserer Fassade sind keine Schwächen –
sie sind die Fenster, durch die das Licht hereinfallen kann. Und durch die unser inneres Strahlen nach Außen sichtbar wird.

Lies dazu auch: Mein Gold-Schwarz-Gold-Prinzip der Selbstfindung

Menschsein ist kein Makel.
Es ist das, was uns leuchten lässt.

Es ist nicht das Glatte, das uns verbindet.
Sondern das, was echt ist. Roh. Manchmal ungeordnet. Aber immer wahrhaftig.

Wenn wir beginnen, wieder fühlbar zu werden – für uns selbst und andere –
dann beginnt etwas Neues: Begegnung. Tiefe. Leben.
Und vielleicht beginnt genau da der Weg zurück. Zu dir.

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